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Von Spiegeln, Splittern und Balken: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 13. Juli

Von Spiegeln, Splittern und Balken: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 13. Juli

Von Spiegeln, Splittern und Balken: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 13. Juli

# D | Predigten

Von Spiegeln, Splittern und Balken: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 13. Juli

Es ist mitten in der Nacht und der Elfjährige quasi unsichtbar, liebe Gemeinde. Er sucht nach dem Stein der Weisen. Leise schleicht er durch das Schulgebäude. Zufällig öffnet er eine Tür und steht in einem verlassenen Klassenzimmer. Staub liegt auf dem Boden, kalt ist die Luft im Raum. Und da steht er: ein großer, alter Spiegel mit einem vergoldeten Rahmen, fast so hoch wie die Decke. In verschnörkelter Schrift steht oben: „Nerhegeb“. Harry Potter tritt näher heran und sieht Unerwartetes. Nicht nur sich selbst, sondern hinter sich seine Eltern, die lange schon tot sind. Fasziniert und überwältigt von Sehnsucht vergisst er alles um sich herum. Diese Entdeckung, diese wiedergefundene Kindheit, will er unbedingt seinem besten Freund zeigen. Beide gemeinsam schleichen im Schutz seines Tarnmantels durch Hogwarts zum Spiegel. Doch als Ron hineinblickt, sieht er nicht Harry und dessen Glück, sondern sich selbst als Schulsprecher, Supersportler und beliebtesten Schüler. Der Spiegel Nerhegeb – rückwärts ergibt sich daraus das Wort „Begehren“ – ist ein Schlüssel auf der Suche nach dem Stein der Weisen, der ewiges Leben verspricht. So ist das im Buch und Film bei Harry Potter. „Allerdings gibt uns dieser Spiegel weder Wissen noch Wahrheit“, erklärt der weise Schulleiter Albus Dum-bledore und räumt den Spiegel weg. Denn der zeigt nur, was das Herz eines Menschen sich am meisten wünscht. Manche Menschen verlieren sich darin, erklärt er. „Es ist nicht gut, wenn wir nur unseren Träumen nachhängen und vergessen zu leben.“

Wenn Sie jetzt sagen: Hexerei, Zauberei, Harry Potter – ohne mich! Kenn ich nicht, brauch ich nicht, zack – da sind Sie genauso ihren eigenen Vorurteilen erlegen wie ich. Bis ich vor zwei Wochen in Durham war. In der Partnerkathedrale in Nordengland, wo große Teile der Harry-Potter-Filme gedreht wurden. Da habe ich die Bücher dann doch zur Hand genommen. Ich ahne nun, was Millionen Kinder daran fasziniert und entdecke manches, das mir bekannt vorkommt.

Die Suche nach dem Elixier des Lebens, die treibt nicht nur Zauberer in Büchern um. Die Frage nach Gut und Böse, nach gutem, sinnvollen, gelingendem Leben, die ist so alt wie die Menschheit. Ewiges Leben? Erfüllung tiefster Sehnsucht? Da gibt die Bibel immer noch die tragfähigsten Hinweise und stellt die besten Fragen, finde ich. Viele sehen sie wie einen Spiegel anderer Art, durchaus vergleichbar mit dem bei Harry Potter. Einen, aus dem wir ein Idealbild herauslesen. In dem wir gut dastehen. Auf der richtigen Seite. Bei den Guten. Bei denen, die ihren Müll korrekt trennen, aufs Fliegen weitgehend verzichten, sich für Geflüchtete engagieren, anderen Menschen Hilfe und Ratschläge geben. Wir entwerfen ein Bild von uns selbst, bei dem wir ziemlich gut aussehen. Besser als die meisten anderen.    

Schauen wir in den Spiegel des heutigen Sonntags. Da hält der Evangelist Lukas die Worte von Jesus so fest: Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist. Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemanden zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. Vergebt anderen, dann wird Gott auch euch vergeben. Das steht nicht für sich, sondern am Ende der großen Predigt von Jesus auf dem Berg, auf freiem Feld. Gerade ging es um die Feindesliebe, die krasseste Forderung und Anforderung überhaupt. Und nun geht es um das Ende der eigenen Rechthaberei. Den Schritt zurück aus der ewigen Selbstbespiegelung. Jesus drängt zur Selbsterkenntnis: Wie sehe ich eigentlich auf andere Menschen? Wie finde ich mich selbst im Vergleich? Bin ich umgeben von Konkurrenten und Gegnerinnen, von denen ich mich abheben will, um besser dazustehen? Oder kann ich meine Mitmenschen geschwisterlich annehmen? „Du wirst bald feststellen, dass einige Zaubererfamilien viel besser sind als andere, [Harry] Potter“, sagt der reiche Mitschüler Malfoy, der auf Harrys Freund Ron aus einfachen Verhältnissen herabschaut. „Und du wirst dich doch nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben. Ich könnte dir behilflich sein.“ Er streckt Harry die Hand hin, doch der ergreift sie nicht. Er antwortet nur: „Ich denke, ich kann selber entscheiden, wer zur falschen Sorte gehört.“

Schenkt, dann wird Gott auch euch beschenken, sagt Jesus. Ein gutes Maß wird euch in den Schoß geschüttet – festgedrückt, geschüttelt und voll bis an den Rand. Denn der Maßstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten. Ist das nicht die Revolution der Gnade? Die ultimative Forderung nach Fehlerfreundlichkeit? Gottes barmherziger Umgang mit uns allen setzt den Maßstab für unseren Umgang mit anderen. Sollte es zumindest. Denn auf dem ein oder anderen Auge sind wir alle wohl blind. Haben unsere blinden Flecken. Haben immer das Bedürfnis, uns besser darzustellen und von anderen abzugrenzen. Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen sie so, wie wir sind. Tappen blind in die Fallen unserer Selbstbespiegelung. Weil wir wie Ron nicht immer im Schatten der großen Brüder stehen mögen, weil wir immer die besten sein wollen wie Hermine oder wie Harry als Kind zu wenig Liebe bekommen haben, weil wir uns ständig unter- und überschätzen und mit anderen vergleichen. Das aber bringt weder Wissen noch Wahrheit. Macht euch das bewusst, sagt Jesus. Und macht euch davon frei. So, wie ihr beurteilt und verurteilt, fällt ihr nur das Urteil über euch selbst. Gottes Maßstab ist ein anderer. Das Angebot steht. Gottes Maß ist übervoll. Gott schöpft die Gnade voll aus. Auch wenn ihr das vielleicht mehr ahnt als begreift. Denn was wir erkennen, sind nur Bruchstücke, schreibt Paulus. Aber einmal, am Ende der Zeit, werden wir vollkommen verstehen. Wenn aber das Vollkommene kommt, vergehen die Bruchstücke. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind. Ich urteilte wie ein Kind und dachte wie ein Kind. Als ich erwachsen geworden war, legte ich alles Kindliche ab. Denn jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild. Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke. Aber dann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt (1. Kor. 13).

Manchmal helfen Bücher beim Verstehen der Bruchstücke. Harry Potter etwa versucht – gut paulinisch! – sich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden. Wie durch ein Wunder kann der, dessen-Name- nicht-genannt-wird in Hogwarts, ihn trotz aller dunklen Mächte nicht überwältigen. Kein Zauber beschützt Harry, sondern etwas unerwartet Anderes. „Wenn es etwas gibt, das Voldemort nicht versteht, dann ist es Liebe“, erklärt der weise Schulleiter am Ende. „Er wusste nicht, dass es eine Liebe gibt, die so mächtig ist wie die Liebe deiner Mutter zu dir.“. Das versteht jedes Kind. Und jedes Kind, das diesen Kampf nachliest oder im Film sieht (vor der grandiosen Kulisse von Durham Cathedral!), bekommt eine Ahnung davon, was es heißt, wenn der Tod nach uns greift, aber die Liebe Gottes sich ihm in den Weg stellt. Kinder wie Erwachsene sehen, wie grausam die Welt sein kann – und wie groß die Liebe des väterlich-mütterlichen Gottes zu uns. Sie bewahrt uns nicht vor Auseinandersetzung, vor Verletzungen, vor dem Tod. Aber sie bewahrt uns im Leiden und sogar noch im Tod und durch den Tod hindurch.

Schenkt, dann wird Gott auch euch beschenken, sagt Jesus. Ein gutes Maß wird euch in den Schoß geschüttet – festgedrückt, geschüttelt und voll bis an den Rand. Gott schenkt Leben in Fülle. Gnade, die überfließt. Im Überfluss. Weil Gott uns kennt und erkennt, besser als wir selbst uns kennen und begreifen. Das ist der Maßstab. Der Maßstab, den ihr an andere anlegt und der auch für uns selber gilt. Geschenkt. Einfach so. Aus Liebe.

Wirklich beschenkt habe ich mich in Durham gefühlt, als wir vor zwei Wochen dort waren. Von geschwisterlicher Gastfreundschaft in großen Gottesdiensten mit vielen Menschen und Morgenandachten, in denen wir die einzigen Besucher waren. Und von der Erkenntnis, dass mein Urteil über Harry Potter ziemlich daneben war. Jetzt bin ich gespannt, womit Gott uns als nächstes überrascht. Der Dean aus Durham kommt im Oktober zu uns zu Besuch. Aber wie ich Gott kenne, wird er so lange nicht warten. Weil niemand uns längst so genau kennt.

Amen

 

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