
21/09/2025 0 Kommentare
Von Bernstein, "Brüdern und Schwestern" und von der Bewahrung: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 21. September
Von Bernstein, "Brüdern und Schwestern" und von der Bewahrung: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 21. September
# D | Predigten

Von Bernstein, "Brüdern und Schwestern" und von der Bewahrung: Predigt von Pastorin Margrit Wegner am 21. September
Predigt zu 1. Thess. 5, 14-24 am 14. Sonntag nach Trinitatis, von Pastorin Margrit Wegner, 21. September 2025
Das kleine Stück Bernstein begleitet mich, liebe Gemeinde. Ich habe es aus Lettland mitgebracht. Ein Geschenk aus dem Festgottesdienst vor zwei Wochen. Gefeiert haben wir, dass vor 50 Jahren die ersten Frauen in Lettland ordiniert wurden. Drei Pastorinnen. Ein mutiger Schritt. Ihnen folgten weitere, die wie ihre männlichen Kollegen predigten, tauften, verheirateten, die Trauer begleiteten, Abendmahl feierten. So wie Paulus es schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Thessaloniki. Schreibt an eine Minderheit inmitten einer Welt, die dieser Religion nicht viel zutraut, die sie mit Misstrauen beobachtet und verfolgt: Weist diejenigen zurecht, die kein geregeltes Leben führen. Ermutigt die Ängstlichen, kümmert euch um die Schwachen, und habt Geduld mit allen. Achtet darauf, dass niemand Böses mit Bösem vergilt. Bemüht euch vielmehr stets, einander und allen anderen nur Gutes zu tun. Freut euch immerzu! Betet unablässig!
Die Kirche hatte es nicht leicht in der Sowjetzeit in Lettland. Sie existierte nur geduldeter, stark eingeschränkter Form. Freut euch immerzu, betet unablässig? Wer die DDR erlebt hat, weiß wie mühsam Gemeindeleben ist unter staatlicher Beobachtung. Unter dem Druck, sich der politischen Ordnung, der atheistischen Ideologie anpassen zu sollen. Viele Kirchen in Lettland wurden geschlossen und Geistliche verfolgt. Groß waren die Hoffnungen, als das Land 1991 unabhängig wurde. Ich erinnere mich gut an den Wind of change. Über Silvester 1991/92 waren wir mit unserem Schulchor in Riga, mit 300 jungen Menschen. Zum ersten Mal nach den Jahren der Okkupation durften wir das Weihnachtsoratorium singen. Sechs Konzerte in acht eiskalten Kirchen. Unvergessen die Herzlichkeit der Menschen in den Gemeinden, die Begegnungen mit den lettischen Jugendlichen. Wir hielten Kontakt mit Briefen, träumten englisch, deutsch, lettisch von Aufbruch und Freiheit. Brüder und Schwestern, wir bitten euch, schreibt Paulus, […] ermutigt die Ängstlichen, kümmert euch um die Schwachen. Freut euch immerzu! Betet unablässig! Dankt Gott für alles! Denn das ist Gottes Wille, und das hat er durch Christus Jesus für euch möglich gemacht.
Zwei Jahre nach der Unabhängigkeit dreht der Wind in der lettischen Kirche. Brüder und Schwestern? Aus der Geschwisterlichkeit wird reine Brüderlichkeit und eigenartige Männerbündelei. 1993 wurde Jānis Vanags Erzbischof und blieb bis vor drei Wochen. Vanags war von Anfang an persönlich gegen die Frauenordination. Obwohl die Verfassung der Kirche (Artikel 133) garantiert, dass „jede:r Berufene:r um Ordination bitten [kann]“, werden seither keine Frauen mehr ordiniert. 2016 hat die Synode der lettischen Kirche die Ablehnung der Frauen im Pfarramt festgeschrieben. Es wird explizit das Wort „männlich“ in die Kirchenverfassung bei der Passage über die Ordination eingefügt. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben, hat Paulus vor gut 2000 Jahren geschrieben (Gal. 3, 28f.). Das gilt auch in Lettland in den Gemeinden, sagen die Männer. Oft sind es nämlich Frauen, die vor Ort in den kleinen Gemeinden die Menschen stärken und beisammenhalten, die als Seelsorgerinnen gefragt sind, als Evangelistinnen alle Aufgaben übernehmen – nur eben ohne Bezahlung. Eine Frau erzählt uns, dass ihre Gemeinde auf dem Land weit vor der Stadt immerhin ihre Fahrtkosten übernimmt, das sei schon etwas. Taufen, Abendmahl, alle administrativen Aufgaben aber sind eben an die Ordination gebunden und damit den Männern vorbehalten.
Ein Ausweg ist die „Evangelisch-lutherische Lettische Kirche weltweit“. In der Exilkirche dürfen Frauen wie Männer, dürfen Menschen jeden Geschlechts gleichberechtigt in den Gemeinden arbeiten. Starke Frauen. Gestandene Frauen. Und doch auch gezeichnete Frauen, spüre ich. Trotz Ausgrenzung und Ablehnung finden sie ihren Weg. Werden Pastorin, Pröpstin, Bischöfin, Professorin in anderen Ländern. Eine leitet ihre Gemeinde auf Englisch in Riga, sie hat 20 Jahre Erfahrung in der anglikanischen Kirche. Lieber würde sie in ihrer Muttersprache predigen! In ihrer Kirche, in der sie aufgewachsen ist als junge Frau – und in der Kinder und Heranwachsende seit 30 Jahren keine weiblichen Rollenvorbilder kennenlernen.
Wir ermahnen euch, liebe Brüder, schreibt Paulus, und auf solche Textpassagen beziehen sich die Männer und begründen ihre Vorrangstellung. Ja, da steht das Wort ἀδελφοί, und es bedeutet wörtlich „Brüder“. Aber im antikem Griechisch wie auch im Neuen Testament ist adelphoi immer auch inklusiv: Brüder und Schwestern oder schlicht: Geschwister. In seinen Briefen sieht Paulus Frauen als aktive Mitglieder der Gemeinden. All die Gemeinden bestanden nie nur aus Männern. In der Apostelgeschichte 17,4 wird genau beschrieben, wie Paulus die Gemeinde in Thessaloniki gründet. Da heißt es, dass neben einigen Juden auch „viele gottesfürchtige Griechen und nicht wenige Frauen aus den angesehenen Kreisen“ zum Glauben kamen. Im Brief an die Gemeinde und in dem Abschnitt daraus, der heute Predigttext ist, kommen keine konkreten Frauennamen vor, aber andere Briefe zeigen, dass Frauen von Anfang an Mitarbeiterinnen, Gastgeberinnen und Prophetinnen waren, etwa Phoebe, Priska oder Lydia. In Thessaloniki dürfte es ähnlich gewesen sein: Frauen aus wohlhabenden Familien ermöglichten in ihren Häusern überhaupt erst die Versammlung von Christenmenschen. So sind auch die Worte an die adelphoi, die Brüder oder Geschwister, nicht geschlechtsspezifisch, sondern an die ganze Gemeinde gerichtet. Sowohl die Mahnungen (Unordentliche zurechtweisen, Schwachen beistehen), als auch die Aufforderung zur geistliche Praxis (betet ohne Unterlass). Vor allem aber gilt die Verheißung allen: Gott, der Frieden schenkt, mache euch ganz und gar zu Heiligen. Er bewahre euch unversehrt an Geist, Seele und Körper. Es soll an euch nichts auszusetzen sein, wenn unser Herr Jesus Christus wiederkommt. Gott, der euch beruft, ist treu: Er wird das alles tun.
Die Dekanin der Theologischen Fakultät in Riga, Dace Balode, hat einen Vortrag über ihre jüngste Forschung gehalten. Sie hat Menschen in Gemeinden nach Rollenbildern befragt. „Was ist eine Frau? Sie hat Kinder, sie ist sanft, sie ist liebevoll, sie ist eine Mutter“, sagt etwa ein Mann aus einer Gemeinde. „Ein Mann ist der, der verteidigt, der seine Familie beschützt. Ohne über Stereotypen zu sprechen, hat Gott festgelegt, dass die Frau das schwächere Geschlecht ist. Gottes Wort sagt das. Gott wollte, dass Frauen Kinder auf die Welt bringen.“ Wir Konferenzteilnehmenden sind sprachlos. „Warum sollte ein Mann vor einer Frau knien, sagen wir, am Altar? Aber sollte eine Frau knien? Eine Frau kann das“, sagt Anita, ein Gemeindeglied. „Ich denke, Frauen sind bescheidener.“ Und ein Pastor sagt: „Die Reihenfolge ist immer noch, dass Männer die geistliche und führende Rolle haben. Gott ist auch ein Vater und ein Mann, von dem alles kommt.“ Da kann ich nur mit Paulus sagen: Unterdrückt nicht das Wirken des Heiligen Geistes. Missachtet die prophetische Rede nicht. Prüft aber alles und behaltet das Gute. Haltet euch vom Bösen fern – wie auch immer es aussieht.
All der Schmerz und die Freude, die bitteren Erfahrungen und die trotzige Hoffnung kamen in dem Festgottesdienst zusammen, den wir vor zwei Wochen mit Menschen und Pastorinnen aus aller Welt gefeiert haben. Am Ende bekam jede von uns einen Bernstein zur Erinnerung. Denn im Bernstein kommt alles zusammen: Die Macht der Sonne, die salzig-bittere Ostsee, die Sturheit des Nordwinds, die Widerstandsfähigkeit des Heidekrauts, die Beständigkeit des Himmels und die Lebensfreude der Kiefern im Wind. Die Frauen in Lettland sagen: „So wie sich vor Tausenden von Jahren Bernstein unter großem Druck in den Tiefen des Meeres bildete und ans Licht kam und allen Freude bereite, so werden wir auch wachsen, ertragen und Gottes Licht in uns selbst aufnehmen, um uns und anderen Freude und Kraft zu geben. So wie Bernstein nach Stürmen gefunden wird, sind wir auch hier, inmitten der Stürme des Lebens, der Welt und der Kirche. Wir werden stark sein in der Kraft Gottes. Wir werden im Schatten der Ewigkeit ertragen. Zusammen mit unserem liebenden Gott werden auch wir einander lieben, die Welt, die Gott geschaffen hat, und uns selbst, so wie Gott uns liebt.“ Der kleine Bernstein erinnert mich täglich an die starken lettischen Kolleginnen. Wie sie trotz des Drucks leuchten im Licht Gottes. Ich bete für sie. Und ich weiß: Gott, der euch beruft, ist treu: Gott wird das alles tun.
Amen
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