
07/09/2025 0 Kommentare
Die Sprachlosigkeit überwinden - Predigt von Vikar Per Olsen am 12. Sonntag nach Trinitatis
Die Sprachlosigkeit überwinden - Predigt von Vikar Per Olsen am 12. Sonntag nach Trinitatis
# D | Predigten

Die Sprachlosigkeit überwinden - Predigt von Vikar Per Olsen am 12. Sonntag nach Trinitatis
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
Eine Frau, auf dem Weg zu einem Open-Air-Konzert. Die Vorfreude ist groß – endlich wieder Livemusik, endlich wieder mittendrin! Aber schon der Weg bis zum Gelände ist weit und anstrengend. Jeder Meter kostet Kraft. Andere strömen leichtfüßig an ihr vorbei.
Gedränge am Eingang, dichtes Schieben und Drängen. Sie versucht, sich durchzuschlängeln, bittet hier und da um Platz – doch in der lauten Menge geht ihre Stimme unter. Manche sehen sie kurz an, lassen sie widerwillig vorbei. Nicht ohne diesen Blick: manchmal mitleidig, manchmal genervt.
Auf dem Konzertgelände wird es nicht leichter. Überall stehende Menschen, Köpfe und Schultern versperren die Sicht zur Bühne Sie versucht, sich vorzukämpfen – Meter um Meter. Das kostet Kraft, Nerven und Geduld. Aber sie gibt nicht auf.
Schließlich erreicht sie den Bereich ganz vorne am Geländer. Vorsichtig richtet sie sich auf, zieht sich langsam am Geländer hoch – und plötzlich ist der Blick frei: die Musiker, die Bühne, das Licht, das ganze Erlebnis. Da hört sie hinter sich jemanden – voll Missgunst über ihren Platz vor der Bühne – etwas zischen. Leise, aber doch so laut, dass sie die sarkastischen Worte hören kann: „Nächstes Mal bringe ich auch meinen Rollstuhl mit.“
Liebe Gemeinde, um sich in einer Predigt einem Thema zu nähern, eignet sich so manche schöne Geschichte. Geschichten wie diese sind dagegen alles andere als schön. Vielleicht, weil sie eben keine Geschichte ist, sondern bittere Realität. Ein Mensch, der im Rollstuhl so manche Herausforderung im Alltag meistern muss, kann nicht immer auf die Unterstützung seines Umfelds zählen. Und dann macht so ein Satz – wie ich ihn vergangene Woche mit eigenen Ohren hören durfte – einfach sprachlos.
Doch wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, wie wir in unserer Gesellschaft mit körperlichen Behinderungen umgehen, dann beobachte ich häufiger eine gewisse Sprachlosigkeit. Oftmals gar nicht aus bösem Willen, sondern aus Unbedarftheit, fehlender Kenntnis für den Menschen mit seinen Bedürfnissen, aus Scham und einer allgemeine Überforderung bei Themen wie Krankheit und körperlicher Beeinträchtigung. Darüber spricht man nicht gern – lieber sprachlos bleiben. Doch egal, ob ein Mensch schon ein Leben lang mit einer Behinderung lebt oder durch das Alter zunehmend körperliche Beeinträchtigung erfährt – die Konsequenzen dieser Sprachlosigkeit sind für Betroffene verheerend.
Wer länger krank ist, wird oft einsam, vom Leben abgeschnitten. Wer eine körperliche Beeinträchtigung hat, bleibt oftmals außen vor. Ein Zustand, den niemand wirklich will. Ein Zustand, der viel Mitgefühl hervorruft – und den wir gleichzeitig hinnehmen. Weil Betroffene nicht immer die Kraft haben, sich Gehör zu verschaffen. Und vor allem weil, alle anderen so oft sprachlos danebenstehen.
Eine ähnliche Situation finden wir auch in unserem heutigen Predigttext vor. Ich lese aus der Apostelgeschichte:
1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, 8 er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. 10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
Eine eindrückliche Geschichte, die an so manche Heilungsgeschichte Jesu erinnert. Nun sind es Petrus und Johannes, die in Jesu Nachfolge eine ähnliche Situation vorfinden. Da ist ein Mensch mit einer körperlichen Beeinträchtigung – und ein Umfeld, das einen erstaunlichen Umgang damit gefunden hat: Jeden Tag wird er an dieselbe Stelle vor dem Tempel gebracht, um dort für seine Versorgung zu betteln. Jeden einzelnen Tag, sein ganzes Leben lang! Und auch wenn die Menschen in der Geschichte es sicher gut mit dem Gelähmten meinten, weil dadurch seine Versorgung gesichert schien: Mich erstaunt, wie sich alle Beteiligten mit der Situation abfinden. Mich erstaunt wie wir Menschen sich mit solchen Gegebenheiten abfinden und uns darin einrichten.
Und ist es heute, 2000 Jahre später denn anders? Wie sehr haben wir uns gerade hier in Lübeck in einer historischen Altstadt eingerichtet, die für einen Rollstuhlfahrer manchmal ein echter Hindernislauf ist? Wie sehr haben wir uns damit abgefunden, dass Orte des öffentlichen Lebens, Behörden, Schulen, Bibliotheken – und auch Kirchen – im Jahr 2025 noch immer nicht vollständig barrierefrei sind? Wir müssen da gar nicht weit schauen: Hier in unserem Dom haben Menschen keinen unmittelbaren Zugang zum Taufbecken. Wie sehr haben wir uns damit abgefunden, dass Teilhabe in allen Lebensbereichen für eine große Zahl von Menschen einfach nicht ermöglicht wird und sich derzeit auch nicht großartig dorthin bewegt?
„Es geht halt einfach nicht.“ Diesen Satz höre ich oft. Zu teuer ein barrierefreier Umbau, zu aufwändig, hier und da eine Rampe einzubauen, zu viel Arbeit, für die paar Betroffenen eine barrierefreie Toilette einzubauen. „Es geht halt einfach nicht.“ – nicht selten sprechen Betroffene diesen Satz irgendwann selbst resigniert aus.
Werfen wir erneut einen Blick auf die Geschichte der Apostel. Ihr Umgang mit dem Gelähmten gibt uns vielleicht einen wichtigen Impuls – und damit meine ich nicht die wundersame Heilung als solche. In den sogenannten Heilungsgeschichten richtet sich der Blick allzu schnell auf das Wunder. Das ist tückisch. Denn der permanente Fokus auf die körperlichen Beschwerden eines Einzelnen Menschen und die Frage nach seiner Heilung verdeckt den Blick darauf, welches ungesunde Verhältnis wir als Gesellschaft zu diesem Thema haben. Nicht der Mensch mit einer körperlichen Einschränkung ist das Problem, sondern eine Gesellschaft, in der Teilhabe oft nur ein Lippenbekenntnis bleibt, ist das Problem!
Und ja, dieses Thema ist manchmal gar nicht so leicht anzugehen – zu groß die Sprachlosigkeit. Schauen wir jedoch in den Text, überwindet Petrus die Sprachlosigkeit zunächst mit einem einfachen aber sehr entscheidenden Satz. Keine großen Worte oder Gesten, sondern drei Wörter: „Sieh uns an!“
Petrus und Johannes blicken den Mann, der Tag für Tag am Tor sitzt, direkt in die Augen. Und sie fordern ihn auf, dasselbe zu tun – das erscheint so banal und doch für den Verfasser des Textes erwähnenswert zu sein, denn selbstverständlich ist es damals wie heute offenbar nicht! Ein Leben lang waren Menschen nur mitleidig an ihm vorbeigegangen. Mal gaben sie etwas, mal nicht. Wie gut muss es getan haben, dass endlich zwei Menschen anders handeln –ihm auf Augenhöhe begegnen und ihn ansprechen!
Und dann – so steht es im Text – reicht Petrus diesem Mann die Hand und „richtet ihn auf“ im Namen Jesu Christi.
Liebe Gemeinde, das alle Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und miteinander darüber ins Gespräch zu kommen, wie wir alle am Leben gleichberechtigt teilhaben können, richtet Menschen wieder auf. Das ist noch kein Wunder, aber aus so einer Haltung können Wunder entstehen und Gesellschaften sich verändern, ohne dass wir immer erst auf ein Wunder in Medizin geschweige denn in unserer Politik warten. Und wenn wir das tun und wenn wir als Gesellschaft sprachfähiger werden in Bezug auf Teilhabe, dann erfährt unsere Gesellschaft eine Heilung, die sie so dringend braucht.
Für die Frau im Rollstuhl in der ersten Reihe des Konzertgeländes hat dieser Vorfall der guten Stimmung am Ende keinen Abbruch getan. Denn mit dem ersten Song dieser Band, die sie nun live, umgeben von fröhlichen Menschen in der ersten Reihe sehen kann, wird eine Botschaft ausgesendet, die sie besonders aufrichtet: Schau Dich um diese Welt ist unsere;
Lass die Angst und die Sorgen los;
Hier bist du frei;
Jede Fahrt ist wie ein neuer Tag.
Gott muss ein Seemann sein;
Keiner geht verloren;
Keiner geht verloren.
Amen.
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