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Die neue Ausstellung und die Kanzelrede von Jo Tein, Hempels

Die neue Ausstellung und die Kanzelrede von Jo Tein, Hempels

Die neue Ausstellung und die Kanzelrede von Jo Tein, Hempels

# M | Aktuelles

Die neue Ausstellung und die Kanzelrede von Jo Tein, Hempels

Am 5. Mai hat Vorstandsmitglied von Hempels, Kiel, Jo Tein die Kanzelrede gehalten.

HIer zum Nachlesen:


Liebe St Marien-Gemeinde, liebe Besucherinnen und Besucher des heutigen Gottesdienstes,

Sie haben vielleicht bereits vorab davon erfahren, oder heute beim Eintritt in diese schöne und beeindruckende Kirche bemerkt, dass HEMPELS das Straßenmagazin für Scheswig-Holstein mit seiner „Traumbilder-Ausstellung“ hier zu Gast ist. Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit dem Theater Kiel und vor allem den dortigen Gewandmeisterinnen entstanden. Die beeindruckenden Fotos hat Holger Förster gemacht, der für das HEMPELS Straßenmagazin seit mehreren Jahren ehrenamtlich tätig ist.

Ich freue mich sehr, dass Pastor Pfeifer mir heute die Gelegenheit gegeben hat, etwas über die Hintergründe dieser Ausstellung zu sagen und Ihnen einen Vorschlag zur Einbettung der Ausstellung in den Kontext dieses Sonntags „Rogate“ zu machen.

Mein Name ist Jo Tein, ich bin Mitbegründer des Schleswig-Holsteinischen Straßenmagazins und als Vorstand des Trägervereins sowie der HEMPELS Stiftung dem Projekt seit knapp 30 Jahren eng verbunden.

Warum ist eine Ausstellung der HEMPELS Traumbilder hier in einer Kirche am richtigen Platz?

Die Traumbilder sind Fotografien, die auf prekäres Leben, ein Leben in Armut in unserer Gesellschaft hinweisen sollen. Die kostümierten Menschen, die hier in großer Eindrücklichkeit zu sehen sind, sind Verkäuferinnen und Verkäufer unseres Straßenmagazins, Besucher unserer Einrichtungen und zu einem kleinen Teil auch Mitarbeitende aus unserer Verwaltung. Die Kostüme zeigen diese Kolleginnen und Kollegen in Rollen, die die Beteiligten sich selbst ausgesucht haben. Sie geben Auskunft über eigene, unerfüllte Wünsche (SEK/Polizei, Vampir, Handlungsreisender), über die eigene Sehnsucht, vielleicht doch irgendwann ein leben ganz ohne Geldsorgen führen zu können (Goldgräber), oder schlicht darüber, welche historischen Figuren einem selbst als Vorbild oder Orientierungspunkte dienen können (Elisabeth I., Shakespeare, Nina Hagen). Sie symbolisieren die zeitlich begrenzte Verwandlung in eine erfolgreiche Person, in einen Menschen, der selbstbestimmt lebt und von anderen gesehen wird. Und sie markieren damit einen kurzen Ausbruch aus der selbst erlebten Ausgrenzung und Bedeutungslosigkeit, die Menschen, die Armut erleben, alltäglich erfahren.

Einer der Texte, der sich für diesen Sonntag Rogate in manchen Perikopenordnungen wiederfindet, ist Jesus Sirach (SIR) 35, 16-22A. Als sogenannter apokrypher Text, der nicht Teil des protestantischen Kanons ist, ist er sicherlich wenig bekannt. Der aus dem 2. Jhdt. v. Chr. Stammende Text jedoch befasst sich auch mit Fragen von Armut und Ausgrenzung. Es heißt dort: „(Der Herr) hilft den Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. (…) Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt.“

Ob es sich bei den Traumbildern um Gebete handelt, dem Schwerpunktthema des heutigen Feiertags, ist sicherlich fraglich. Die Bilder sind nicht explizit an Gott gerichtet und es ist in vielen Fällen nicht einmal so, dass eine dauerhafte Verwandlung tatsächlich erbeten wird. Sicher ist aber, dass sie durch ihre Protagonisten auf ein Leben in Armut hinweisen. Und diesen will Gott helfen. Jesus Sirach steht dabei in einer reichen Tradition des Alten Testaments. Unter anderem das 5. Buch Mose (Dtn.) befiehlt den Gläubigen im 15. Kapitel, die Hand gegenüber den Armen weit zu öffnen, bspw. durch einen Schuldenerlass in jedem 7. Jahr. Und die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas gehen im neuen Testament sogar noch darüber hinaus und fordern uns auf, all unseren Besitz zu verkaufen, ihn den Armen zu geben und Jesus nachzufolgen.

Auch wenn wir, die wir hier anwesend sind, kaum den radikalen Forderungen des Alten und des Neuen Testaments in Gänze nachkommen können - das Thema Armut und somit auch die  Traumbilder-Ausstellung scheinen in einer Kirche jedenfalls am rechten Platz zu sein.

Ich möchte Ihnen noch ein klein wenig über die Hintergründe der Protagonisten der Ausstellung erzählen und auch etwas darüber, was wir bei HEMPELS versuchen zu tun, um Armut zu lindern oder zumindest etwas erträglicher zu machen.

Und da stellt sich natürlich zunächst einmal die Frage, was Armut denn eigentlich ist.

Wahrscheinlich ist Ihnen geläufig, dass unterschieden wird in absolute und in relative Armut. Als absolut arm gelten gemäß den Vereinten Nationen Menschen, die finanziell nicht in der Lage sind, ihre lebensnotwendigen Grundbedürfnisse, bspw. auf Nahrungsmittel zu erfüllen.

In den wirtschaftlich besser entwickelten Teilen der Welt, und so auch in Europa, hat sich hingegen der Begriff von relativer Armut etabliert. Die EU spricht von Armut, wenn Menschen weniger als 60% des durchschnittlichen Nettoeinkommens in einer Volkswirtschaft zum Leben zur Verfügung haben. Ihnen ist keine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in diesen Ländern mehr möglich. Was dies bedeuten kann, kennen wir alle: Kleidung und Ausflugsteilnahmen von Kindern, Mitgliedschaften in Vereinen oder der Besuch von kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen sind aus finanziellen Gründen nicht möglich, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und wir kennen dies alle, weil auch in Schleswig-Holstein rund 16% der Bevölkerung zu der Gruppe der relativ armen Menschen gehören.

Eine solche Einordnung ergibt sich bei alleinstehenden Menschen bei einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als rund 1.150 EUR pro Monat.

Anhand ähnlicher, finanzieller Messdaten wird in der Abgabenordnung (der bundesgesetzlichen Grundlage für das hiesige Gemeinnützigkeitsrecht) auch definiert, welche Menschen von mildtätigen Organisationen in Deutschland Hilfe erfahren dürfen.

Und hieraus ergeben sich dann auch die Voraussetzungen für die Berechtigung, in Lübeck, Flensburg oder Kiel Straßenzeitungen verkaufen zu dürfen.

Wenn sie schon einmal ein Straßenmagazin erworben und gelesen haben – was ich sehr hoffe – wissen Sie allerdings, dass wir es zu großen Teilen mit einer Gruppe von finanziell armen Menschen zu tun haben, die unter noch weiteren Handycaps leiden, die das Leben zusätzlich erschweren. Beispielsweise ein Leben ohne Wohnung, ein Leben mit Suchterkrankungen, Missbrauchserfahrungen, psychischen Beeinträchtigungen oder langen Erfahrungen in Erziehungsheimen oder auch Haftanstalten.

Die Beschäftigung als Verkäuferin oder als Verkäufer einer Straßenzeitung zielt deshalb nicht nur auf eine überschaubare Linderung des finanziellen Mangels. Sie bietet vor allem auch eine niedrigschwellige Möglichkeit, am Arbeitsleben teilzuhaben und damit eine Tagesstruktur und vielfältige soziale Kontakte zu ermöglichen. Sie ebnet Wege, aus prekären und bedrückenden Lebenslagen herauszufinden oder die entsprechenden Lebenswelten zumindest so zu gestalten, dass auch ein Leben in Armut in Würde und so weit es geht selbstbestimmt ermöglicht wird.

Das Leben als Verkäuferin oder Verkäufer bedeutet in jedem Fall eine tägliche Verwandlung von einem unsichtbaren, nicht gebrauchten und an der sozialen Teilhabe weitgehend gehinderten Menschen hin zu einem sichtbaren, beschäftigten Menschen, der noch dazu ein sinnvolles Produkt unter die Leute bringt.

Der Zeitungsverkauf ist insofern die etwas weniger spektakuläre, aber stets auf unseren Straßen präsente Variante der Traumbilder, die wir heute hier in St. Marien zu sehen bekommen.

Wenn Sie mögen, können wir im Anschluss an diesen Gottesdienst gerne noch über die Bilder ins Gespräch kommen. Auch Holger Förster, der unsere Verkaufenden und Mitarbeitenden fotografisch so einfühlsam in Szene gesetzt hat, ist heute hier und zu Gesprächen bereit. Etwas mehr Hintergrundinformationen zu dem Projekt finden Sie auch in der HEMPELS  Ausgabe 316, die Sie unter www.hempels-sh.de - und dort im Zeitungsarchiv - kostenfrei abrufen können.

Vielen Dank.

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