05/04/2025 0 Kommentare
Allein gegen alle: Der König der Juden, Hans Rosenthal und die Menschen, die wegsehen
Allein gegen alle: Der König der Juden, Hans Rosenthal und die Menschen, die wegsehen
# D | Predigten

Allein gegen alle: Der König der Juden, Hans Rosenthal und die Menschen, die wegsehen
Allein gegen alle. Ein Einzelner gegen eine ganze Stadt, liebe Gemeinde. Drei Fragen, und dann heißt es: Daumen hoch – oder Daumen runter. Leben oder Tod. Erste Frage: Was für eine Klage bringt ihr gegen diesen Menschen vor? Zweite Frage: Bist du der König der Juden? Dritte Frage: Was hast du getan? Und die Spezialfrage: Was ist Wahrheit?
Seht, welch ein Mensch! Da steht einer allein wie auf einer Bühne. Allein im Rampenlicht vor aller Augen. Verfolgt. Misshandelt. Angeklagt. Zum Tode verurteilt, zum Abschuss freigegeben. Chancenlos. Gnadenlos ausgeliefert. Alle gegen einen. Das Urteil steht fest, bevor der Prozess beginnt. Lebensunwertes Leben. Ein Jude, einer von vielen. Heruntergekommen von ganz oben im wahrsten Sinne. Doch König der Juden und König der Herzen war gestern. Jetzt ist er allein.
„Allein gegen alle“, das war der Titel einer Quizsendung in den 60er und 70er Jahren. Ein Mensch spielte gegen eine ganze Stadt. Drei Fragen hatte er und eine Sonderfrage, dann wurde per Daumenzeichen entschieden. Moderator war Hans Rosenthal, beliebtester Quizmaster des Landes. „Rate mal mit Rosenthal“, „Dalli-Dalli“, „Am laufenden Band“ oder eben „Allein gegen alle“: Die Deutschen liebten seine Sendungen und seine locker-zugewandte Art. „Sie sind der Meinung…das ist spitze!“. Da sprang er und schien in der Luft zu schweben. Neueste Tricktechnik des Fernsehens. Hans Rosenthal bekam Ehrungen vom Bambi bis zum Bundesverdienstkreuz, wurde zum Krawattenmann des Jahres gewählt. Nur die wenigsten Deutschen wussten von seinem ersten Leben vor dem zweiten, dem öffentlichen-rechtlichen. In dieser Woche wäre Hans Rosenthal, der auf so vielen Showbühnen im Rampenlicht stand, 100 Jahre alt geworden.
„Ich, Hans Rosenthal, bin am 2.4.25 geboren“, schreibt er als 17-Jähriger. „Meine Kindheit verlief bis zum 6. Lebensjahr normal. Ich besuchte dann die Volksschule. Nachdem ich die Schule vier Jahre besucht hatte, wurde ich auf die jüdische Mittelschule umgeschult.“ Da verläuft schon nichts mehr normal für jüdische Kinder in Deutschland, denn Hitler ist seit zwei Jahren an der Macht. Als Hans 13 Jahre alt ist und sein Bruder Gert sechs oder sieben, stirbt der Vater. Gert kommt ins Kinderheim, weil die Mutter Krebs bekommt und ebenfalls stirbt. Hans kümmert sich so gut er kann um seinen Bruder. Der ist zehn Jahre alt, als er und viele andere Kindern nach Riga deportiert werden. 50 Postkarten hat Gert dabei, alle adressiert an Hans. Er will ihm jeden zweiten Tag eine schicken. Keine kommt an. Hans ist 17 und muss Zwangsarbeit leisten in einer Munitionsfabrik, dann Gräber ausheben für Kriegstote. Ein Jude. Einer von vielen. Allein. Mutterseelenallein in der großen Stadt Berlin, in der jeden Tag mehr jüdisches Leben ausgelöscht wird. Menschen sehen gleichgültig zu. Machen mit. Woher kommen Hass und Ekel, Abscheu und Dünkel? Was wirft man unschuldigen Menschen vor?
Da führten sie Jesus von Kaiphas zum Prätorium; es war früh am Morgen. […] Da kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Was für eine Klage bringt ihr gegen diesen Menschen vor? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet. Wie lautet die Anklage? Was hat dieser Mensch getan? Daumen runter. Er ist des Todes schuldig. Tötet ihn. Tötet alle, die anders sind. Die leben wollen nach eigenen Vorstellungen und nach ihrem Glauben. Menschen, die Machtansprüche in Frage stellen. Die Fragen stellen nach dem, was zwischen Himmel und Erde ist und nicht nur in Blut und Boden. Sind es Vorurteile? Die Suche nach Sündenböcken, um von eigener Schwäche abzulenken? Brauchen Menschen immer andere, auf die sie herabschauen können, um sich selber stärker zu fühlen, größer zu machen? Damals in Jerusalem. Damals in Berlin. Und heute? Ganz normale Menschen lassen sich hinreißen zu brutaler Demütigung. Wo Argumente, Vernunft, Gespräch nicht weiterführen, kippt die Stimmung. Wird aus latenter Angst Aggression, wird aus Minderwertigkeitsgefühlen hasserfüllte Überlegenheit. Werden aus Worten Beschimpfungen, Pöbeleien, Schubsereien und Schläge. Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht.
In Berlin sind Menschen mit dem Judenstern auf der Kleidung ihres Lebens nicht mehr sicher. Sie können auf offener Straße bespuckt und gedemütigt werden. Tausende sind bereits deportiert, eilig auf Lastwagen verfrachtet oder in Viehwaggons. „Dalli, dalli! Schnell, schnell!“ Auch das Jugendwohnheim, in dem der elternlose 17-jährige Hans lebt, wird geräumt. Alle Bewohner werden nach Auschwitz gebracht. Zufällig ist Hans Rosenthal an diesem Tag auf Montage. Kurz darauf werden jüdische Zwangsarbeiter deportiert. Er weiß: Diesmal wird es ihn treffen. Allein gegen alle, so muss er sich gefühlt haben. Wer fragt gewinnt, das ist seine einzige Chance. So bittet er unter Lebensgefahr eine Bekannte: „Ich muss mich verstecken, Frau Jauch. Gert ist schon abtransportiert. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mich vielleicht aufnehmen und verstecken könnten?“ Sie verbirgt ihn in ihrem Hühnerschuppen in der Kleingartenanlage Dreieinigkeit mit den Worten: „Du kannst bei mir bleiben, Hansi. Der Krieg dauert sowieso nicht mehr lange.“ Doch es werden noch mehr als zwei Jahre sein. 25 quälend lange Monate verstecken drei Frauen den jungen Mann und teilen die knappe Ration ihrer Lebensmittelkarten. Etwa zehn Menschen wissen von seinem Versteck. Jeder könnte ihn auffliegen lassen. Keiner tut es. Was bewegt sie? Mitleid? Barmherzigkeit? Die Frage nach der Wahrheit? Der Satz aus der Johannespassion: Seht, welch ein Mensch? Die Aufforderung: Sei ein Mensch?
Allein gegen viele: Am 25. April 1945, vor genau 80 Jahren, hört Hans Rosenthal in seinem Versteck das Dröhnen von Panzerketten. Er läuft den sowjetischen Soldaten entgegen. Die Rotarmisten sehen den gelben Stern auf seiner Kleidung. Sie haben zuvor das Konzentrationslager Majdanek befreit. Dort wollten SS-Wachen mit Judensternen getarnt entkommen. Die Rotarmisten suchen Rache. Doch ein Offizier fordert Hans auf, das jüdische Glaubensbekenntnis zu sprechen: „Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der ewige ist einzig.“ Sein Glaube, für den seine Familie mit dem Leben bezahlt hat, rettet Hans Rosenthal am Ende des Krieges das Leben.
Schaffe mir Recht, Gott, und führe meine Sache wider das treulose Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten. Mit Psalm 43 beten zu allen Zeiten die unschuldig Angeklagten, die Verfolgten, die Gedemütigten. Ein verzweifelt stummer Schrei, wo Unrecht zum Himmel schreit. Gott, wo bleibt deine Gerechtigkeit? Sende dein Licht und deine Wahrheit in diese finstere, verblendete Welt! Da fragt Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortet: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.
Allein vor der Welt. Von Gott und der Welt verlassen. Niemand steht Jesus bei. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld (Mt. 27, 24-26). Alle gegen einen. Und das Paradoxe, das Undenkbare geschieht am Kreuz: Jesus stirbt. Einer für alle. Ein für alle Mal. Jesus Christus trägt die Schuld der Mitläufer, der Denunziantinnen, der schweigend Wegsehenden, trägt unsere Ohnmacht und Ratlosigkeit an dieses Kreuz. Könnte sich wehren. Hätte die Macht. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Tut es aber nicht. Sondern leidet mit den Verfolgten, für die Gequälten, stirbt mit den Ermordeten. Erträgt die Gottverlassenheit der Welt. Und eröffnet damit neue Wege zum Leben und im Leben. Begreifen lässt sich das nicht. Nur ahnen, nur glauben, nur hoffen in den dunkelsten Stunden. Sende dein Licht und deine Wahrheit, Gott, dass sie uns leiten.
Was ist Wahrheit? Was trägt? Eine der Frauen, die ihn versteckt hat, hat dem jungen Hans Rosenthal einen Psalm aufgeschrieben. Dieser Zettel blieb ihm lebenslang heilig, auch als er längst Deutschlands beliebtester Quizmaster und Krawattenträger war. Darauf steht: „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen.“
Amen
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