0451/30 80 10

Was ist der Mensch? Und welchen Sinn hat die Kirche? Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

Was ist der Mensch? Und welchen Sinn hat die Kirche? Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

Was ist der Mensch? Und welchen Sinn hat die Kirche? Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

# D | Predigten

Was ist der Mensch? Und welchen Sinn hat die Kirche? Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

Predigt über Hiob 14 am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres von Pastorin Margrit Wegner

Stellt euch vor, es gäbe keine Kirche mehr, liebe Gemeinde. Keine Institution. Keine Landeskirchen, keine Sitzungseinladungen, keine Haushaltspläne. Keine Ämter, keine Gremien, keine Konvente. Nur Menschen. Menschen, die sich irgendwo treffen. In einer Küche, in einer Sporthalle, auf einer Wiese, oder hier im Ostchor, der so schön hell ist und weit. Weil sie etwas spüren, das größer ist als sie selbst. Weil sie miteinander beten wollen. Weil sie singen, ohne dass jemand sagt, wie laut oder wie falsch. Weil sie glauben wollen oder wenigstens hoffen.

Stell dir vor, die Kirche wäre nicht mehr die Institution, sondern das, was bleibt, wenn alle Strukturen, alles Menschengemachte fällt. Wäre die Sehnsucht nach Gott, die Gemeinschaft der Suchenden, die Erinnerung an einen Ruf, der uns ins Leben liebt – jeden Tag neu.

Was ist der Mensch, fragt Hiob, für den die Welt zusammengebrochen ist. Was ist der Mensch, von einer Frau geboren? Sein Leben ist kurz und doch voller Unruhe. Wie eine Blume blüht er auf und wird abgeschnitten. Wie ein Schatten flieht er und bleibt nicht hier. Welchen Sinn hat das alles? Wozu mach ich mir so viel Mühe? Was bleibt am Ende? Hiob kämpft darum, von Gott gesehen, gehört, überhaupt wahrgenommen zu werden. Will irgendwie zu Gott durchdringen. Bei all dem Elend in seinem Leben arbeitet er sich ab an seinen Freunden, die ihn trösten (oder eher: vertrösten) wollen – und an Gott. Die Frage, wieso all die Hiobsbotschaften ausgerechnet ihn treffen, die stellt er schon gar nicht mehr. Er versucht nur verzweifelt, irgendwie einen Umgang zu finden mit dem Tod seiner Kinder, mit dem Verlust seiner Existenz, mit den paar anstrengenden Freunden, die ihm noch bleiben. Was ist der Mensch?, schleudert er Gott entgegen. Oder flüstert Hiob das resigniert? Für dich bin ich bloß Staub. Wie jeder Mensch. Trotzdem richtest du deine Augen auf ihn und gehst mit ihm ins Gericht. Gibt es einen Menschen, der von Geburt an rein ist? Es gibt keinen einzigen! Darum sind seine Tage begrenzt, die Zahl seiner Monate steht fest. Du hast seinem Leben eine Grenze gesetzt, die kann er nicht überschreiten. Darum schau weg und lass ihn in Ruhe! Lass ihm doch das bisschen Lebensfreude wie einem Tagelöhner, der nach der Arbeit ruht. Ja, für einen Baum gibt es Hoffnung. Wenn er gefällt wird, treibt er wieder aus. Es fehlt ihm nicht an neuen Trieben. Das gilt selbst für einen alten Baumstumpf, dessen Wurzelstock in der Erde abgestorben ist. Sobald er ein wenig Wasser spürt, treibt er aus und blüht wieder auf wie ein junges Bäumchen. Anders ist das bei einem Menschen: Wenn er stirbt, dann ist es aus mit ihm.

Schluss mit lustig. Aus und vorbei. Das Leben ist kurz, und am Ende bleibt einfach nichts. Kannst du nichts mitnehmen. Dann ist alles egal. Wozu der Aufwand? Wozu treffen wir uns? Worüber noch diskutieren? Was kann ich überhaupt tun? Ich halte den Niedergang nicht auf. Ich kann nichts machen, wenn keiner mehr etwas von Gott wissen will.

Hiob erlebt, was viele spüren, die gerade einen Menschen verloren haben, die Arbeit, die große Liebe, jeden Traum von Zukunft. Alle, die sich mit Hiobsbotschaften auskennen, spüren den radikal einsamer Schmerz. Von Gott und der Welt verlassen. Möchten resignieren. Aufgeben. Doch irgendwann keimt da leise, fast unbewusst Hoffnung auf. Wenn es das gäbe? Etwas wie göttliches Erbarmen, wie Wiederbelebung, wie neues Leben? Dieses Hoffen bleibt ohne Heilsgewissheit bei Hiob, aber es durchbricht seine Verzweiflung. Wenn ein Mensch stirbt, ist sein Leben aus. Wenn du mich aber versteckst, könnte ich warten – wie einer im Kriegsdienst auf seine Ablösung hofft. Du würdest mich rufen und ich dir antworten. Du würdest dich wieder freuen an deinem Geschöpf.

Ein wirklich krasses Bild, oder? In diesem uralten Text, in dieser uralten Frage, wie Gott das Leiden der Welt, dieses Sterbenmüssen und mein und dein persönliches Schicksal zulassen kann, taucht plötzlich bei Hiob vor gut zweieinhalb tausend Jahren ein neuer Gedanke auf. Radikal neu. Quer zu allem, was um ihn herum vorstellbar ist. Der Gedanke: Nein, mit dem Tod ist eben nicht alles vorbei. Vielleicht bin ich nur eine Weile im Tod verborgen, bis Gott mich wieder ruft. Vielleicht stehe ich Todesangst durch, fühle mich im Todeskampf wie im Krieg an vorderster Front – und dann ruft Gott mich nach Hause. In einen unfassbar heilen und hellen und lichten und leichten Frieden. Weil Gott mich nicht in Dreck und Elend verrecken lässt, sondern Freude an mir haben will. Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweigt nicht, heißt das im Psalm (Ps. 50, 2f.). Einige Jahrhunderte später wird Jesus Christus zeigen, dass nicht der Tod das letzte Wort behält, sondern die Liebe, der warme lichtvolle Glanz unseres Gottes.

Und heute, noch einmal 2000 Jahre später? Von Hiobsbotschaften können wir auch ein Lied singen. Nicht wegen der Politik, Perspektivlosigkeit und persönlichen Katastrophen. Ich sehe uns als Kirche manchmal wie Hiob in seinem Elend sitzen und mit seinen Freunden jammern und ringen und klagen. Gestern hat die Synode getagt. Radikale Veränderungen wird es wohl geben. Mittwoch hatten wir im Kirchengemeinderat die Austrittszahlen auf der Tagesordnung. Über 40 Menschen haben in diesem Jahr die Gemeinde verlassen. Noch einmal so viele sind gestorben. Eingetreten ist niemand. Gut, ein paar Menschen haben sich umgemeinden lassen, und wir haben auch fleißig getauft, aber insgesamt schrumpfen wir unaufhörlich. Egal, wie viele Jugendliche hier neu starten – 86 Konfis und 30 konfirmierte Jugendliche, die ihre Teamer:innenausbildung machen – mit der Kirche geht es bergab. Weniger Mitglieder, weniger Geld, weniger Personal, mehr Betriebskosten, mehr Bürokratie, mehr Burnout. Wir haben keine Seniorenarbeit mehr und keinen Besuchsdienst. Wir müssen Gemeinden zusammenlegen, und den Gemeindebrief können wir uns nicht mehr leisten. Die Sanierung der Türme verschlingt Millionen, die wir nicht haben, und bindet viel Arbeit und Zeit. Es ist ein Elend. Ist die Kirche als Institution, wie wir sie kennen, in ein paar Jahren am Ende?

Und wenn ja, macht es mir Angst? Mit Hiobs Worten klingt das doch so: Die Kirche, geboren aus Gottes Geist, lebt eine kurze Zeit – 1000 Jahre sind vor Gott wie ein Tag! – und ist voll Unruhe. Sie blüht auf wie eine Blume und verwelkt; sie gleicht einem Schatten, der vorüberzieht und nicht bleibt. Und du, Gott, öffnest deine Augen über sie – willst du sie vor dein Gericht bringen? […] Ihre Tage sind bestimmt, die Zahl ihrer Zeiten steht bei dir; du hast ihr eine Grenze gesetzt, die sie nicht überschreiten kann. So blicke doch ab von ihr, damit sie Ruhe hat, dass sie wie ein Tagelöhner ihre Zeit vollende. […] Doch wenn die Kirche stirbt – wenn ihr Geist versiegt, ihre Hoffnung stirbt, wo ist sie dann? […] Ach, dass du sie in der Verborgenheit bewahren wolltest, Gott, dass du sie dort verwahrtest, bis dein Zorn sich gelegt hat, dass du ihr ein Ziel setztest und dann wieder ihrer gedächtest! Wenn die Kirche stirbt – könnte sie wieder leben? All die Tage ihrer Mühsal würde sie harren, bis du sie erneuerst. Du würdest rufen – und sie würde dir antworten; du würdest dich sehnen nach dem Werk deiner Hände. Dann würdest du ihre Schritte zählen, doch ihre Schuld würdest du nicht beachten. Du würdest ihre Verfehlung versiegeln in einem Bündel und ihre Schuld zudecken.

Stellt euch vor, es gäbe keine Kirche mehr, liebe Gemeinde. Keine Institution. Nur Menschen, die etwas wissen wollen von Gott. Die Kranke besuchen. Die sich um Gefangene kümmern. Um Fremde. Menschjen, die sehen, was Not ist und was notwendig und not-wendend. Die beten und feiern und singen, wie es ihnen gefällt und sicher auch Gott. Vielleicht wäre das keine Katastrophe, sondern ein Neuanfang. Vielleicht muss die Kirche, wie wir sie kennen, erst sterben, damit sie wieder blühen und leben kann, so wie Hiob es anklingen lässt.

Was, wenn genau das geschieht, wenn Gott uns ruft – nicht in Sitzungen, sondern ins Leben, nicht in Fusionen, sondern in Begegnungen, nicht in Verwaltungsebenen, sondern in Gemeinschaft? Dann wäre die Kirche ganz bestimmt nicht verloren. Sie wäre verwandelt. Lebendig. Nicht von uns. Sondern durch Gott.

Wann das beginnt? Vielleicht genau jetzt und hier. Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweiget nicht. Amen

Dies könnte Sie auch interessieren